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Der neunte Verschwundene

Aktualisiert: 11. Apr.



Ein Brief an Isaac, den Verschollenen


“Ich schaue nach Euch, jedes mal, wenn ich glaube, das Schnauben Eures Rosses im Hof zu vernehmen,” schrieb die Rabenfrau an jenem Jahrestag, an dem Er seit zehn Jahren verschollen war, während sie aus dem Fenster blickte, “und ich habe heute für Euch mein schönstes Gewand angelegt, aber Ihr seid buchstäblich wie vom Erdboden verschluckt.

Was habt Ihr mir noch geschrieben, in Euren letzten Briefen, ich solle weder nach Euch suchen, noch nach Euch schicken, bis ich ein Lebenszeichen von Euch erhalten werde.

Nun, Jahre sind inzwischen ins Land gezogen, und Ihr schweigt immer noch. Hat Euch eine Krankheit befallen oder seid Ihr inhaftiert worden? Seid Ihr etwa in Haft gestorben?

Gehofft habe ich, wenigstens eine kurze Botschaft zu erhalten, aber vergebens. Mein Junge fragt nach Euch, er versteht nicht, ob er Euch vergrämt haben könnte, ich hingegen, ob Euch Schlimmes zugestoßen sei. Ihr wisst nicht, dass ich acht Getreue verloren habe durch Pest und Cholera, auch sie verschwunden für immer in kalter Erde, von Würmern zerfressen, längst ein kahles Gerippe.

Wir sind davon verschont geblieben, aber wenn es Euch auch seltsam dünkt, die Einsamkeit an kalten Winterabenden verursacht mir ebensolches Frösteln wie das Verharren an frischen Gräbern. Wenn mein Junge zu Bett gebracht wurde, allein ich Euch noch neben dem Feuer sitzen sehe, immer bereit und wachsam, uns zu schützen vor Fremden, vor Dieben und anderem unerwünschtem Gesindel, dann fürchte ich nicht nur um unser Leben, sondern auch unser Seelenheil.

Ihr führtet das Schwert wie ein getreuer Krieger Jahr für Jahr, doch nun seid Ihr fort und vielleicht gemeuchelt durch ebendieses. Ach, wenn Ihr diesen Brief nur lesen könntet, …

ich sehe diese meine Zeilen durch ungeweinte Tränen verschwommen wie ein altes Weib. Lasst von Euch hören, so es den Göttern gefällt,



Eure Euch ergebene Rabenfrau mit dem blonden Jungen

(Ihr habt ihn noch auf den Knien geschaukelt und würdet ihn nicht mehr erkennen)."


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Erstellt mit Wix.com

Kontakt: Lady Aislinn

email: LadyAislinn@women-at-work.org

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